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Carsten Siebenbürgen

Strukturen bürgerlicher Ordnung. Die Lübecker Armenfürsorge vom Spätmittelalter bis zur Frühen Neuzeit

Mit dem Übergang vom späten Mittelalter zur Frühen Neuzeit änderte sich allmählich das bisherige Verständnis von Bedürftigkeit sowie der gesellschaftlich praktizierte Umgang mit von Armut betroffenen Personen, welche von sozialer Teilhabe weitestgehend ausgeschlossen waren. Man versuchte die große und diffuse Gruppe der Armen zu kategorisieren und sie durch den Erlass von Armenordnungen zumindest ansatzweise zu kontrollieren. Nicht nur in Lübeck wurden gesunde Personen, denen man „Arbeitsunwilligkeit“ attestierte, in sogenannte Armen- und Werkhäuser interniert, um sie zu bürgerlicher Arbeitsmoral zu erziehen. Daneben entstanden allmählich weitere spezielle Fürsorgeeinrichtungen, welche sich den durch körperlichen Gebrechen arbeitsunfähig gewordenen Stadtbewohnern, den Kranken, den Waisenkindern sowie den (mittellosen) Fremden annahmen. Armut war weder in der Stadt des Mittelalters noch in der Frühen Neuzeit eine Randerscheinung. Ein Großteil der städtischen Bevölkerung lebte „von der Hand in den Mund“ und war damit ständig von Armut bedroht. Anfänglich lag die Versorgung dieses Personenkreises in den Händen der Kirche. Zwischen dem Ausgang des Spätmittelalters, im Verlauf der Reformation sowie im 17. und 18. Jahrhundert verstärkt sich jedoch zunehmend die Tendenz, dass die Kommunen sukzessiv größere Anteile an der administrativen Kontrolle des Armenwesens anstreben. Durch die Heranziehung von bisher unbeachteten Verwaltungs- und Rechnungsquellen werden diese Prozesse der „Verbürgerlichung“ oder „Kommunalisierung“ für den Lübecker Stadtraum erstmals einer tiefergehenden Untersuchung unterzogen. Anknüpfend an eine Institutionsgeschichte des ursprünglich zum Heiligen-Geist-Hospital gehörigen aber bislang nur unzureichend erforschten Armen-Gasthauses in der Großen Gröpelgrube, in dessen Verwaltungsschriftgut sich eben jene Umbruchsprozesse eindrücklich niedergeschlagen haben, soll der Blick schließlich auf die übrigen Armenhäuser und Fürsorgeeinrichtungen der Freien Reichsstadt Lübeck und deren Administration ausgeweitet werden. Mit der Veröffentlichung der ersten sogenannten Armenordung im Jahr 1601 standen „bürgerliche“ Deputierte nun dauerhaft an der Verwaltungsspitze dieser Anstalten. Auch im nunmehr protestantischen Lübeck stellte die Sorge um die Armen eine Grundkonstante christlicher Verantwortung dar. Gleichsam konnten (wohlhabende) Bürger durch ihr caritatives Handeln in Form von Spenden oder der Übernahme eines ehrenamtlichen Verwaltungsamtes ihr symbolisches Kapital steigern und ihre Repräsentation und Reputation in der Stadt erheblich steigern. Den in diese Funktionsstelle gelangenden „Bürgervorstehern“ und ihren persönlichen und sozialen Vernetzungen untereinander aber auch in die Stadtgesellschaft hinein soll daher im weiteren Verlauf der Arbeit im Rahmen einer prosopographishen Studie besondere Aufmerksamkeit zuteilwerden. Betrachtet man die mit der Leitung der Armenanstalten betrauten Personen genauer, so drängt sich der Eindruck auf, dass dieses Amt nicht nur dem Ausleben der christlichen Nächstenliebe oder der eigenen Repräsentation gedient hat. Vielmehr scheint es die Amtsträger weiter für die Aufgaben in höheren Ratsämtern legitimiert zu haben – es dient als „Sprungbrett“ in den Rat. Außerdem scheint es gleichsam als „Abstellgleis“ für Angehörige von Ratsfamilien gedient zu haben, welche es nicht in die höchste Führungsschicht des Lübeckischen Staates geschafft haben.

Carsten Siebenbürgen studierte Germanistik und Geschichte an der Universität Osnabrück und erwarb 2018 den Master of Education. Am Lehrstuhl für mittelalterliche Geschichte arbeitete er im Anschluss als wissenschaftliche Hilfskraft. Sein Promotionsvorhaben wird seit 2019 mit einem Stipendium des ZKFL gefördert.

E-Mail: carsten.siebenbuergen@student.uni-luebeck.de


Veröffentlichungen:

  • Siebenbürgen, Carsten: Immer eine Reise wert. Pilgerfahrten zum Apostelgrab, in: Kalmlage, Tanja und Franzen, Judith (Hrsg.): drunter & drüber. Unter dem Parkhaus das Mittelalter (Begleitband zur Ausstellung), Osnabrück 2017, S. 51-58.
  • Eickhölter, Manfred und Siebenbürgen, Carsten: Die Lübecker Gertrudenherberge im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Aktuelle Beiträge zur Nutzung und Ausstattung, in: Lübeckische Blätter (Jg. 184, Nr. 9), Lübeck 2019, S. 142-146.