Skip to main content

Miriam Mayer

Lübecks Wunderkammer. Die Sammlung Jacob von Melle als Urzelle der Lübecker Museen

Sammeln ist ein elementares und ästhetisches Bedürfnis des Menschen. Seit jeher wollte man die Zeit durch materielle Güter festhalten und sich Objekte aneignen. Auch die Sammlungsgeschichte musealer Objekte reicht häufig weiter zurück als bis zur Gründung moderner Museen, zu deren Kernaufgaben das Sammeln gehört. Daher beschäftigen sich die Kunstgeschichte und die Wissenschaftsforschung auch mit der Geschichte vormoderner Sammlungen. Den frühen Kunst- und Wunderkammern der Fürstenhöfe als Sammlungsräume, in denen Kunstwerke, Naturalien, wissenschaftliche Instrumente und Kuriositäten aufbewahrt und präsentiert wurden, kam zunächst besondere Aufmerksamkeit zuteil. Wunderkammern mit ihren vielfältigen, oftmals außereuropäischen Objekten präsentierten die „Welt in der Stube“. Sie versammelten das Wissen rund um die Objekte und ihre Herkunft. Die Kunstgeschichte hat sich in den letzten Jahren auch intensiv mit dem bürgerlichen Sammeln auseinandergesetzt. Während Objekte vorher als Singularitäten der Natur bewundert wurden, bemühte man sich in der Sammlungskultur des 18. Jahrhunderts auch um die Ordnung und den Vergleich der Dinge. Die Sammler und Akteure sowie die Praktiken und Formen des Wissens und der Repräsentation, die sich mit den Sammlungstätigkeiten verbinden, wurden erst in jüngster Zeit in den Blick genommen.

Das Dissertationsprojekt legt den Fokus auf die bisher kaum erforschte Sammlung des Lübecker Pastors und Historikers Jacob von Melle (1659–1743). Das „Museum Mellianum“, wie Melle seine Sammlung selbst betitelte, markiert den Beginn des wissenschaftlichen Sammelns in Lübeck. Melles Sammlung kurioser Objekte, die er in seinem Haus in der Fleischhauerstraße auch Besuchern zugänglich machte, wurde in den 1950er Jahren vom damaligen Leiter des St. Annen-Museums, Hans Arnold Gräbke, als „Urzelle“ der Lübecker Museen dargestellt. Heute bewahren das St. Annen-Museum und die Lübecker Völkerkundesammlung neben einem Bestandskatalog eine Reihe von Objekten aus dem „Museum Mellianum“ auf. Diese Bestände legen nahe, dass das erste Lübecker Museum in seiner ursprünglichen Form dem Modell einer Wunderkammer entsprochen hat. Neben Kunstwerken, Münzen, Trachten, Waffen und Naturalien enthielt die Sammlung auch historische Spielzeuge aus der Zeit der ersten archäologischen Grabungen in der Lübecker Altstadt, Schriftstücke und mittelalterliche Testamente sowie Kostbarkeiten aus den nördlichen Ländern wie Bornholmer Goldgubber aus dem 7. Jahrhundert, einen lappländischen Kalender aus Rentierknochen oder ein isländisches Trinkhorn. In diesen Objekten spiegeln sich regionale Begebenheiten und die Handelsrouten Lübecks Richtung Norden wider. Nach Melles Tod 1743 ging die Sammlung in den Besitz seines Sohnes über. Wenige Jahre später wurden die Objekte an den späteren Lübecker Ratsherrn und Bürgermeister Johann Caspar Lindenberg (1740-1824) verkauft, der die Sammlung kontinuierlich erweiterte, bis sie 1831 in den Besitz der „Gesellschaft zur Beförderung gemeinnütziger Tätigkeit“, Lübecks ältester Bürgerinitiative, gelangte. Mit Entstehung der Museen im 19. Jahrhundert wurden die Objekte im Kontext wissenschaftlicher Sammlungsstrategien neu organisiert und kategorisiert. Die Sammlung Lindenberg mit den Objekten der Sammlung Melle wurde in die beiden Bereiche einer naturwissenschaftlichen und einer kulturgeschichtlichen Sammlung ausdifferenziert. Die ursprünglichen Bestände wurden damit in die Ordnung des modernen Museums überführt.

Ausgehend von der Sammlung Melle wird das Promotionsprojekt die Geschichte der Lübecker Museen beleuchten. Dafür sollen die Quellen um den Sammler und die Sammlung Melle sowie die ersten Verzeichnisse der kulturhistorischen Sammlungen der Lübecker Museen ausgewertet werden. Die Dissertation geht den folgenden Fragen nach: Wie war das „Museum Mellianum“ organisiert und welche Funktionen hatte die Sammlung im 18. Jahrhundert? Welche Fragestellungen prägten den Beginn des wissenschaftlichen Sammelns in Lübeck? Welche Objekte der Sammlung Melle haben sich erhalten und welche nicht? Wie sahen die Prozesse der Musealisierung und Institutionalisierung, die Verwissenschaftlichungs- und Professionalisierungsstrategien aus, die dazu geführt haben, dass Objekte aus lange gewachsenen Privatsammlungen in Lübeck wie auch andernorts voneinander getrennt und auf verschiedene Institutionen aufgeteilt wurden? Welche Rolle spielte die „Gesellschaft zur Beförderung gemeinnütziger Tätigkeit“? Welche Funktionen übernahmen die Sammlungen in Lübeck nach ihrer Institutionalisierung? In einem weiteren Schritt wird auf die Bedeutung von Wunderkammern im Kontext der Digitalisierung eingegangen. Gegenwärtig lässt sich beobachten, dass sich die durch die Institutionalisierung und Professionalisierung vormals gezogenen Grenzen wieder verschieben und die Kunst- und Naturalienkabinette in Museen und in digitaler Form wiederkehren. Neben den Herausforderungen sollen auch die Möglichkeiten eruiert werden, die ein virtuelles Kabinett bietet, und diskutiert werden, inwiefern ein Transfer des historischen Sammlungskonzepts in den digitalen Raum möglich ist.

 

Miriam Mayer studierte von 2010 bis 2014 Kunstgeschichte und Betriebswirtschaftslehre an der Otto-Friedrich-Universität in Bamberg mit einem Auslandssemester an der Universidad de Alcalá de Henares in Madrid. Von 2014 bis 2017 absolvierte sie ihr Masterstudium der Kunstgeschichte an der Freien Universität Berlin. In dieser Zeit war sie als studentische Mitarbeiterin in der Forschergruppe „Transkulturelle Verhandlungsräume von Kunst“ bei Univ.-Prof. Dr. Karin Gludovatz tätig. Seit 2019 ist sie wissenschaftliche Volontärin am St. Annen-Museum. Ihre Aufgabenbereiche umfassen Sammlungsmanagement und -digitalisierung, die Bearbeitung wissenschaftlicher Anfragen, wissenschaftliche Recherchen und Texterstellung, Ausstellungsorganisation, Redaktion und Öffentlichkeitsarbeit. Sie promoviert im Fach Kunstgeschichte an der FU Berlin (FB Geschichts- und Kulturwissenschaften) bei Prof. Karin Gludovatz. Ihr Dissertationsprojekt wird vom Zentrum für Kulturwissenschaftliche Forschung Lübeck (ZKFL) im Rahmen eines Promotionsstipendiums gefördert.

E-Mail: miriam.mayer@student.uni-luebeck.de