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Ines Reiss

Die Linie als Gebet. Johann Friedrich Overbeck als Zeichner. Ein kritisches Werkverzeichnis.

"Wenn der Tag also mit Gott begonnen ist, so geh ich an’s Tageswerk, (…), zunächst an eine kleinere Beschäftigung, das ist, irgendeine Zeichnung, (…). In der stillen Abendstunde dagegen findest Du mich wieder bey einer anderen Arbeit, und zwar mit Entwürfen zu neuen auszuführenden Zeichnungen beschäftigt, was mit ganz besonderm Reitz verbunden ist. (…) Indem ich auf diese Weise in der Abwechslung selbst Erfrischung des Geistes finde, gelingt es mir, wie Du siehst, eine Menge von Arbeiten zu fördern, und Du wirst es mir gerne glauben, wenn dich Dir sage, daß ich bey dieser Lebensweise keinen Crösus beneide."[1]

Auf diese Weise beschreibt der Lübecker Maler Johann Friedrich Overbeck (1789–1869) in einem Brief an seine Schwester vom 20. Dezember 1850 seine alltägliche Routine, aus der deutlich hervor-geht, dass die tägliche Zeichenpraxis zu einem festen und wichtigen Bestandteil seines Lebens geworden ist. Vergleichbar mit dem Morgen- und Abendgebet geht er dieser Beschäftigung nach, um sich zeichnend auf jeden neuen Tag vorzubereiten und ihn ebenso mit dem Zeichnen ausklingen zu lassen.

In seiner nahezu 70 Jahre umfassenden Tätigkeit als Künstler hat Friedrich Overbeck ein umfangreiches Œuvre an Zeichnungen hinterlassen, deren Umfang bisher nicht zu beziffern ist. Doch in nahezu jedem namhaften Kupferstichkabinett sowie zahlreichen musealen und privaten Sammlungen im In- und Ausland finden sich Bestände an Overbeck-Zeichnungen, die vom einzelnen qualitätsvollen Exemplar bis hin zu Konvoluten bedeutenden Umfangs reichen. Das Museum Behnhaus-Drägerhaus der Lübecker Museen verfügt mit etwa 250 Objekten über den bislang größten Bestand an Overbeck-Zeichnungen und bietet die ideale Materialgrundlage für ein Werkverzeichnis der Handzeichnungen, das im Rahmen des Promotionsprojekts erarbeitet werden soll. Die Besonderheit des Lübecker Konvoluts besteht nicht zuletzt in seinem beachtlichen Umfang, sondern deckt zudem alle Schaffensphasen – insbesondere die der sogenannten Kindheitsarbeiten – des Künstlers ab und ermöglicht somit eine erste Erschließung der sowohl kunsttechnischen als auch kunstideologischen Entwicklungsprozesse Overbecks.

Ausgehend von den Zeichnungen selbst nimmt das Promotionsprojekt den Werdegang Overbecks als Zeichner im Kontext seiner Zeit in den Blick. Overbeck selbst verstand sich als christlich-religiöser Maler. Im Hinblick auf dieses Selbstverständnis wird der Frage nachgegangen, welchen ideellen Stellenwert der Zeichenakt bei Overbeck einnimmt und inwiefern das Zeichnen, dem er täglich nachging, geradezu meditative Züge trug. Kann in diesem Sinne von einem spirituell-religiösen Verfahren der Bildfindung gesprochen werden, das sich materiell äußert?

Hierbei erscheint es besonders lohnenswert, den Werkprozess in den Blick zu nehmen und zu untersuchen, ob und warum sich unter den Handzeichnungen ausschließlich minutiös angelegte Zeichnungen in dem für die Nazarener so charakteristischen Konturstil finden lassen, die in ihrer bildmäßigen Ausführung oftmals als autonome Kunstwerke gelten dürfen. Wären nicht vielmehr Overbecks Anspruch folgend, aus der eigenen Empfindung heraus zu zeichnen, skizzenhafte Entwürfe zu erwarten, die durch eine Vielzahl an pentimenti den Prozess verdeutlichen, die Bildidee zu erfassen?

Da die detailreich angelegten Kompositionen eines Historienbildes – als Leitgattung der Nazarener – vorbereitend mehrere Einzelstudien erforderten, ist der Werkprozess auch dahingehend zu untersuchen, welche Funktionsbereiche die Zeichnungen abdecken. In der Bildgenese reichen sie von den ersten Skizzen und Studien über Entwürfe bis hin zu Vorzeichnungen und gegebenenfalls Kartons.

Die nazarenischen Handzeichnungen erhoben durch ihre handwerkliche Qualität den Anspruch eines in sich abgeschlossenen – eines finalen – Kunstwerks. Im Hinblick auf Overbecks theologisches Bildkonzept sind insbesondere diese „fertigen“ Zeichnungen aus einer interdisziplinären Perspektive von Interesse, indem sie auf bildinterne Mechanismen untersucht werden, um herauszustellen, inwiefern Overbecks Werkprozess als intellektuell-kontemplative Bibelexegese zu benennen ist.

In diesem Zusammenhang sind auch die Gemeinschaftswerke der Nazarener zu sehen. Neben den anfänglichen Kompositionsübungen der Lukasbrüder steht weiterhin die Illustration von Bilderbibeln im Fokus, um sowohl die wechselseitige Einflussnahme von Künstlerkollektiv und Künstlerindividuum zu beleuchten als auch die zeichnerische Entwicklung und die bildtheoretische Umsetzung zu diskutieren. Hierbei ist zu klären, inwiefern Overbecks Zeichnungen im Werkprozess Alleinstellungsmerkmale aufweist oder ob er sogar ein eigenes Konzept der – spirituell-meditativen – Handzeichnung entwickelte.

Im 18. Jahrhunderts erfuhr das Medium der Handzeichnung im Diskurs um die ‚wahre‘ Kunst und ihre Aufgaben eine entscheidende theoretische Aufwertung, indem sie über die Funktion eines reinen Hilfsmittels hinaus zum ersten, unmittelbaren Ausdruck der künstlerischen Idee nobilitiert wurde. Der Umrisslinie als Umfassung der künstlerischen Idee kam hierbei eine besondere Bedeutung zu. Es ist daher zu fragen, inwiefern Overbecks Zeichnungen den zeitgenössischen philosophisch-ästhetischen Diskurs reflektieren und ob – ausgehend vom Kunstwerk – eine klare Positionierung innerhalb dieser Debatte überhaupt vollzogen werden kann und Overbeck als Zeichner zeitgemäß zu nennen ist.

Daran anknüpfend werden die Rezeption und der internationale Wirkungsgrad Overbecks und seiner religiösen Zeichnungskunst betrachtet. Vor allem die bewusste Einflussnahme im Sinne eines Lehrmeisters auf zeitgenössische sowie nachfolgende Künstler und Künstlerinnen, die Overbeck durch Öffnung des Ateliers sowie der druckgraphischen Verbreitung seiner Kompositionen ausübte, ist hierfür von großer Bedeutung.


[1] Lübeck, Archiv der Hansestadt Lübeck, Familienarchiv Overbeck, 9.2, Brief an die Schwester, 20. Dezember 1850, zitiert nach Hübner/Thimann 2018, S. 18.

Bildquelle: Religion-Macht-Kunst. Die Nazarener, hrsg. von Max Hollein und Christa Steinle, (Ausstellungs-Katalog Frankfurt, Schirn Kunsthalle 15. April - 24. Juli 2005), Frankfurt 2005, Abb. S. 112.

 

Ines Reiss, geb. Barchewicz, schloss ihr Masterstudium an der Georg-August-Universität Göttingen in den Fächern der Kunstgeschichte sowie der Frühchristlichen Archäologie und byzantinischen Kunstgeschichte ab und promoviert seit 2020 bei Prof. Dr. Michael Thimann am Kunstgeschichtlichen Seminar zu Johann Friedrich Overbeck als Zeichner. Ines Reiss war an zahlreichen Ausstellungs- und Digitalisierungsprojekten der Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen sowie der Kunstsammlung der Universität Göttingen beteiligt. Derzeit ist sie als Wissenschaftliche Hilfskraft für das Ausstellungsprojekt „Johann Friedrich Armand von Uffenbach (1687–1769). Seine Stiftung in Göttingen“ (Arbeitstitel, bis Juli 2021) der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen unter der Leitung von Dr. Christian Fieseler beschäftigt.

E-Mail: ines.reiss@student.uni-luebeck.de