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Fake or Fact?

Ein Blick hinter die Kulissen einer mittelalterlichen Pilgerherberge

Beitrag von Carsten Siebenbürgen

Verfolgt man die Debatten über Entwicklungen im Gesundheits– und Pflegewesen, so hat man den Eindruck, dass die Frage nach der Wirtschaftlichkeit einer Fürsorgeeinrichtung zentral im Raum steht.

Der Freiburger Medizinethiker Giovanni Maio formuliert es drastisch. In seinem Buch „Geschäftsmodell Gesundheit. Wie der Markt die Heilkunst abschafft“ schreibt er von einer „Bemächtigung der Medizin durch die Ökonomie“.

Jetzt könnten Sie sich zu Recht fragen, warum ich Ihnen dies erzähle. Hat Ihnen der Titel dieses Vortrags doch einen Blick hinter die Kulissen einer mittelalterlichen Pilgerherberge versprochen. Und was hat es eigentlich mit diesem recht unscheinbaren Erntemesser auf sich?

Heutzutage ist Fürsorge zumeist nicht mehr ohne Renditeorientierung zu denken. Anders verhält es sich, wenn wir unseren Blick auf das Mittelalter richten.

Vielleicht vermuten Sie, dass Fragen nach der Wirtschaftlichkeit und der Wirtschaftsführung in einem mittelalterlichen Hospital erstmal keine Rolle gespielt haben. Tatsächlich aber wurden solche Institutionen bereits im Mittelalter immer auch als Wirtschaftsunternehmen geführt. Dabei stand jedoch nicht die Orientierung an einer maximalen Rendite im Vordergrund. Viele Fürsorgeeinrichtungen unterhielten Gärten, betrieben Landwirtschaft und betätigten sich im Wein- oder Bergbau. Entweder flossen die so gewonnenen Einnahmen direkt zurück an das Haus, oder aber die Produkte wurden direkt verbraucht.

So verhält es sich auch mit dem ehemaligen Gasthaus des Heiligen-Geist-Hospitals. Hier sollten arme Reisende und Pilger für einige Nächte Obdach finden. Das bis heute erhaltene Gebäude können Sie an der Kreuzung Langer Lohberg/Große Gröpelgrube besichtigen.

Die alltägliche Führung des Haushalts lag dort in den Händen eines sogenannten Gastmeisters. Er kümmerte sich um das Wohlergehen der Gäste, erledigte Einkäufe, veranlasste Reparaturen am Haus und war auch für die Bewirtschaftung der Ländereien zuständig.

Hier kommt nun endlich auch unser Erntemesser ins Spiel! An den Rändern von Wakenitz und Trave unterhielt die Herberge eigene Pflanzungen für den Anbau von Hopfen. Hopfen wächst als Ranke an langen Gerüsten. Heute erfolgt die Ernte maschinell. In den Gärten unseres Gasthauses musste er jedoch aufwendig von Hand mit speziellen Messern geschnitten, zusammengebunden und schließlich zur Trocknung abtransportiert werden.

Möglicherweise wundern Sie sich jetzt darüber, dass Hopfen so weit im Norden kultiviert wurde. Heutzutage liegen die Anbaugebiete viel weiter südlich und beginnen erst auf der Höhe von Magdeburg. In der Gegend um Lübeck wurde Hopfen jedoch schon seit dem Ende des 13. Jahrhunderts in größerem Ausmaß angebaut.

Natürlich ahnen Sie bereits, wofür seine Blüten Verwendung fanden. Die Reisenden in unserer Herberge erhielten hier nämlich nicht nur einen Schlafplatz für die Nacht. Sie wurden auch mit Speisen und Getränken versorgt.

Das bedeutendste Alltagsgetränk im Mittelalter war ohne Zweifel das Bier. Es war kalorienreich, annähernd keimfrei und konnte durch die Beigabe von Hopfen nicht nur geschmacklich aufgewertet, sondern auch lange haltbar gemacht werden.

Der Anbau und die Ernte von Hopfen war arbeitsintensiv. Die anfallenden Aufgaben wurden unter männlichen aber auch unter weiblichen Saisonarbeitern aufgeteilt.

Über die Höhe der Löhne oder ihrer Entsprechung in unserer heutigen Währung lässt sich allerdings nur schwerlich Auskunft geben. Interessant ist jedoch, dass neben einer Geldzahlung ein Teil des Lohns immer auch aus Naturalien bestand. Der Gastmeister verköstigte sein „Arbeitsvolk“ – so werden die Arbeiterinnen und Arbeiter von ihm bezeichnet – mit Speck, Braten, Fisch, Käse und natürlich mit Bier. Über die Zuteilung der Nahrungsmittel können wir heute noch auf soziale Hierarchien innerhalb der Arbeiterschaft schließen. Höherrangige Angestellte erhielten aus Hamburg importiertes Bier. Einfache Arbeiter mussten sich mit einem schwach eingebrauten, dem sogenannten „Kaventbier“, zufriedengeben.Sie merken also, dass uns dieses Hopfenmesser einiges über den Alltag und die Wirtschaft in einer mittelalterlichen Pilgerherberge verraten kann. Und dieser Alltag unterscheidet sich, auch das haben Sie gemerkt, fundamental von den Entwicklungen im Fürsorgewesen der heutigen Zeit.


Fake oder Fact? Auflösung

Habe ich Ihnen nun mit den Einblicken in das Leben und Arbeiten in einer mittelalterlichen Pilgerherberge einen sprichwörtlichen Bären aufbinden wollen? Seien sie unbesorgt! Sämtliche geschilderten Details über die alltäglich anfallenden Abläufe lassen sich anhand einer Vielzahl von Dokumenten belegen. Lediglich das ausgestellte Messer ist alles andere als mittelalterlich. Das Ausstellungsstück ist wohl erst einige Jahrzehnte – nicht Jahrhunderte – alt. Solche Gegenstände des täglichen Gebrauchs haben sich leider nur äußert selten erhalten.