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Fake or Fact?

Grosser vollständiger Briefsteller für freundschaftliche und geschäftliche Korrespondenz

Beitrag von Kerstin Klein

Bei dem Objekt, das ich Ihnen vorstellen will, handelt es sich um einen sogenannten Briefsteller. Briefsteller waren eine weit verbreitete Ratgeberliteratur des 17. und 18. Jahrhunderts, die Anleitungen zum Verfassen von Briefen enthielten, von Geschäftsbriefen wie auch von Privatbriefen. Bis in das 21. Jahrhundert hält sich diese Textsorte, zwar längst nicht mehr so verbreitet, aber auch noch heute finden gibt es z.B. von Duden Titel wie „Briefe und E-Mails gut und richtig schreiben: Geschäfts- und Privatkorrespondenz verständlich und korrekt formulieren“.

Der Briefsteller, den ich Ihnen vorstellen möchte, stammt aus dem Jahr 1926 und trägt den Titel: Grosser vollständiger Briefsteller für freundschaftliche und geschäftliche Korrespondenz. Briefmuster aller Art im Verkehr mit Verwandten und Freunden, in Liebes- und Heiratsangelegenheiten, in Handel und Gewerbe, mit Behörden und Gerichten.“

Im einführenden Teil heißt es über den Brief:

„Da nun der Brief die Stelle der mündlichen Rede vertritt, so sollte man meinen, zum Briefschreiben sei keine Anleitung und Unterweisung nötig, man dürfe nur schreiben, wie man spricht. Allein so verhält es sich nicht. Denn jeder Mensch hat gewissermaßen eine doppelte Persönlichkeit, eine für das Haus und den engeren Familienkreis und eine andere für Fremde und den öffentlichen Verkehr. [] Tritt er in den Verkehr mit anderen Personen, so beobachtet er in Kleidung, Manieren und in seiner Sprechweise, was gute Sitte und Lebensart vorschreibt. [] So soll auch der Brief nach Inhalt sorgsam, gefällig, dem Zweck entsprechend abgefaßt und geschrieben sein. [] Besonders gilt dies bei Briefen mit peinlichem Inhalt, bei Mahnbriefen und dergleichen. Hier muss gerade die angenehme äußere Fassung gegenüber dem unerfreulichen Inhalte gewissermaßen versöhnend wirken.“

Die hier nur verkürzt zitierte Einführung in die Komplexität des Briefeschreibens erklärt das umfangreiche Inhaltsverzeichnis: nach einer allgemeinen Einführung in innere und äußere Form des Briefes und Hinweisen zur Satzlehre und Orthografie, wird in die korrekte Verwendung von Titulaturen geistlicher und weltlicher Art eingeführt. Es folgen Briefmuster zu nicht geschäftlichen Briefen wie Glückwünsche zu unterschiedlichsten Anlässen, für Mitleidsbekundungen oder Abschiedsbriefe. Es folgen Briefmuster für „Briefe in Liebes- und Heiratsangelegenheiten“ (teils mit Antwortmustern) und Vorschlägen für passende Gedichte. Desweiteren Bittschreiben, Entschuldigungs-&Rechtfertigungsschreiben, Empfehlungsbriefe um nur einige zu nennen.

Darauf folgen umfangreiche Kapitel zu geschäftlicher Korrespondenz mit Mustern für Bestellungsbriefe, Briefe über Ausstände, Telegramme, Eingaben an Behörden und amtliche Personen usw.

Und dieser Teil über geschäftliche Korrespondenz, der sich zugegebenermaßen zunächst nicht so interessant ausnimmt, wie die Muster für Liebesbriefe nebst Gedichtvorschlägen – dieser Teil wurde nicht von dem auf dem Buchtitel genannten Dr. H. Aabeck verfasst, sondern von einer nicht genannten, aber prominenten Autorin – nämlich von Katia Mann, der Ehefrau des Literatur-Nobelpreisträgers Thomas Mann.

Wie für eine intellektuelle Familie mit gehobenem sozialen Status üblich, führten im Grunde alle Familienmitglieder eine ausgedehnte Briefkorrespondenz. Von Thomas Mann sind heute etwa 25.000 Briefe bekannt, auch die ebenfalls mehrere Tausende Briefe umfassenden Bestände der Kinder Klaus, Erika und Golo Mann sind zumindest in Teilen durch Briefausgaben zugänglich. Die Gross-Briefschreiberin der Familie, deren umfangreiche Korrespondenz bisher wenig, zu wenig Beachtung erfahren hat, ist Katia Mann.

Katia Manns ganzes kommunikatives Geschick und Feinfühligkeit waren gefragt als familiäres Kommunikationszentrum. Sie hielt die acht Familienmitglieder, die regelmäßig über Ländergrenzen und Kontinente verteilt waren, zusammen. Innerhalb der 2000 Briefe umfassenden Familienkorrespondenz, die Inhalt meines Dissertationsprojektes hier am ZKFL sind, ist sie an der Hälfte der Briefe beteiligt, als Verfasserin oder Briefempfängerin.

Bekanntlich war Katia Mann aber nicht nur im privaten „Managerin“ des Familienbetriebs „Mann“, sie selbst bezeichnete sich als „Wirtschaftsoberhaupt“, „Schatzmeisterin“ oder „Sekretärin“. An ihre Tochter Erika schrieb sie in einem Brief:

 „Ich weiß nicht, ob ich Dir von meinem Ehrenamt erzählt habe, nämlich demjenigen von einer Privatsekretärin bei Pielein [gemeint ist Thomas Mann].  Täglich werfe ich mit affenartiger Geschwindigkeit zahllose Briefchen unter seinem Diktat aufs Papier und schreibe sie dann mit der Maschine ab.“ [Jüng/Ross, S. 194]

Zu diesem Zweck hatte Katia Mann extra Stenographie schreiben gelernt. Da Thomas Mann die Angewohnheit hatte, keinen der zahlreichen Briefe, die ihn erreichten unbeantwortet zu lassen, gab es genug zu tun. Bald war sie nicht mehr auf Diktate angewiesen, sondern verstand es meisterlich, Thomas Manns Stils zu kopieren. Aber sie schrieb nicht nur Teile der Privatkorrespondenz Thomas Manns unbemerkt in dessen Namen. Als Wirtschaftsministerin beherrschte sie die gesamte Klaviatur der Verhandlungsführung, sei es, dass sie mit Thomas Manns Verleger schäkerte um bessere Honorare auszuhandeln, sei es, dass sie knallhart Konditionen diktierte oder Absagen verschickte, wenn Vortragseinladungen ihr nicht angemessen erschienen. Es existiert nicht umsonst das Bonmots über Katia Mann, dass jeder Verleger, der es mit ihr zu tun bekomme, es früher oder später bedauerte, dass Thomas Mann nicht Junggeselle geblieben sei.

Katia Mann beherrschte die zeitgenössischen Regeln der Briefkorrespondenz, wie sie unter anderem in Briefstellern normiert wurden, bis in die kleinste Nuance. Formal und sprachlich gleichermaßen geschliffen wie subtil erreichte sie ihre Ziele. Vor kurzem konnte nun verifiziert werden, dass Katia Mann diese Kompetenz als ungenannte Co-Autorin in dem hier gezeigten Briefsteller der Allgemeinheit zur Verfügung stellte, insbesondere das Kapitel über Geschäftsbriefe geht nahezu vollständig auf sie zurück. Dabei hat sie ihre epistolare Raffinesse im Besonderen bei den Vorlagen für Mahn- und Erinnerungsbriefe sowie bei Briefen bezüglich Steuerangelegenheiten einbringen können – es scheint, dass je unangenehmer der Schreibanlass, desto mehr herausgefordert und in ihrem Element fühlte sich Katia Mann.

Warum Katia Mann nicht als Autorin des Briefstellers geführt wird, lässt sich heute nur mutmaßen. Eine Erklärung könnte sein, dass ihr als Frau die Kompetenz für das Verfassen von Geschäftsbrief-Mustern nicht zugetraut wurde, war doch die familiäre Rollenverteilung als weibliche „Wirtschaftsministerin“ in den zwanziger Jahren ausgesprochen ungewöhnlich. Vielleicht wollte es Katia Mann aber auch selbst so: In ihren aus Interviews zusammengetragenen Lebenserinnerungen, dem „Ungeschriebenen Memoiren“, sagt Katia Mann „in dieser Familie muß es einen Menschen geben, der nicht schreibt.“

Nun, da Katia Mann quasi überführt ist, ist sie in die Reihe publizierender Familienmitglieder einzufügen – als Sachbuchautorin.


Fake or Fact? Auflösung

Leider fake.