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Teresa Cäcilia Ramming

Forschungsprojekt: »Das Brahms-Bild Max Kalbecks«

Der Lyriker, Musikschriftsteller, Librettist und Übersetzer Max Kalbeck (1850–1921) ist heute vor allem wegen seiner monumentalen Biografie über den deutschen Komponisten Johannes Brahms (1833–1897) bekannt. Als eigenständige Gattung entstand die Künstler-Biografie vor dem Kontext des Historismus im 19. Jahrhundert; in dieser Zeit wurden zahlreiche Historiografien zu berühmten (Künstler- und Komponisten-) Persönlichkeiten, etwa die Mozart-Biografie Otto Jahns oder die Bach-Biografie Philipp Spittas, verfasst. Kalbecks Brahms-Biografie gehört jedoch zu den wenigen Vertretern dieses Genres, die einen Zeitgenossen zum Gegenstand haben. Das Werk ist nicht nur aufgrund des außerordentlichen Umfangs von insgesamt acht Halbbänden mit über 2100 Seiten einzigartig, sondern vor allem aufgrund der Tatsache, dass der Autor den Komponisten und Musiker Brahms bereits im Jahre 1874 persönlich in Breslau kennengelernt hatte. Spätestens mit seinem Umzug nach Wien gehörte Kalbeck ab Beginn der 1880er-Jahren dem engeren Wiener Brahmskreis an.

Das Forschungsprojekt untersucht anhand der von Kalbeck verfassten Brahms-Biografie in einer musik- und kulturwissenschaftlichen Perspektive die Rezeptions- und Ideengeschichte, die Konstruktionsverfahren sowie Darstellungsweisen des von Kalbeck generierten Genie- und Künstlerbildes Brahms’. Eine dezidierte Auseinandersetzung mit der Brahms-Biografie von Max Kalbeck und dem darin vermittelten Künstler-Bild ist für die Brahms-Forschung bis heute elementar: Die Kalbeck’sche Brahms-Biografie gehört nach wie vor zu den Standardwerken der Brahms-Forschung und hat das Brahms-Bild grundlegend geprägt. Dabei greift die Brahms-Forschung zumeist auf dieses Standardwerk zurück, ohne das Werk als literarisch konzipierten und narratologisch konstruierten Text ernstzunehmen. Deshalb sollen in der Dissertation jetzt durch einen interdisziplinären Zugang im Rahmen einer kulturwissenschaftlich orientieren Musikforschung die Narrative bei der Konstruktion des Künstler-Bildes Brahms’ untersucht werden, wofür insbesondere den Kon-, Sub-, Prä- und Paratexten Aufmerksamkeit geschenkt werden soll. Am Beispiel dieser Biografie-Historiografie sollen also musikwissenschaftliche Texte nicht nur als etablierte Formen der musikwissenschaftlichen Geschichtsschreibung, sondern auch als narratologisch konzipiertes Geschichte(n)-Schreiben verstanden werden, also als etablierte Narrative der Geschichtserzählung. Entsprechend verortet sich das Projekt im Kontext einer kulturwissenschaftlichen Musikforschung, die für einen kritischen Umgang mit den großen (historiografischen) Biografien plädiert.

Ausgangspunkt für das hier vorliegende Forschungsvorhaben ist der soziokulturelle Kontext der Entstehung einer Biografie-Geschichtsschreibung um 1900 in Wien: Max Kalbeck hatte sich nach seiner Übersiedlung nach Wien als Musikkritiker und Musikschriftsteller einen Namen gemacht und wurde als Autor zahlreicher Musikkritiken und Rezensionen zu einem auktorialen Knotenpunkt in dem sehr eng gestrickten Wiener Künstler- und Wissenschaftskreisen – einem Netzwerk, das weit über den Kreis um Brahms hinausgeht. Dieses Netzwerk von Wissenschaftlern, Künstlern und Musikern wird in die Untersuchung miteinbezogen, insofern Kalbeck dieses auch für Konstruktion seiner Biografie aktiv genutzt hatte, um dem von ihm erschaffenen Brahms-Bild möglichst viele biografische Daten aus dem Leben des Komponisten hinzufügen zu können. Auch unter einem weiteren Blickpunkt muss der soziokulturelle Kontext zwingend mit in die Forschung einfliessen: Max Kalbeck hat bei der Konstruktion seines Brahms-Bildes (kultur-)politisch Stellung bezogen, wenn er etwa Brahms in seiner Biografie im sogenannten ›Parteienstreit‹ zwischen der Neudeutschen Schule rund um Liszt und den Konservativen klar positionierte. Allein die Tatsache, dass diese Biografie in Wien um 1900 auch im Zusammenhang mit dem ›neu‹ entdeckten Subjekt und der Psychoanalyse Freuds entstanden ist, macht diesen Kontext für eine dezidierte Auseinandersetzung mit Kalbeck als Historiograf einer Künstler-Biografie zusätzlich bedeutsam.

Um das Brahms-Bild Max Kalbecks zu rekonstruieren, werden die einzelnen Mosaiksteine, Aspekte und Topoi der Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte untersucht: Inwiefern sind die – teilweise bis heute in der Forschung vorherrschenden – Aspekte in den Rezeptionssträngen bereits bei Kalbeck zu verorten und wie wurden sie in der Brahms-Rezeption verstanden, missverstanden, sinnstiftend oder vernachlässigt? Um diese (durchaus mittels Exklusion als selektiv zu bezeichnenden) Aspekte des Brahms-Bildes definieren zu können, soll vorerst die Brahms-Forschung nach Kalbeck bis zum heutigen Stand möglichst ganzheitlich überblickt werden, um diese Topoi der Forschung für die Herangehensweise an die Primärquelle, sprich der Biografie, klar zu definieren. In einem zweiten Schritt wird die Entstehungsgeschichte der Biografie rekonstruiert, um die vom Autor selbst historiografisch-literarisch eruierten Daten (von ihm erforschte Jahreszahlen, Namen, Zusammenhänge etc.) nicht nur als Aufzeichnungen, sondern als aktives Eingreifen des Historiografen selbst zu untersuchen: Im Mittelpunkt stehen dabei die von Kalbeck herangezogenen Quellen und die von ihm erstellten Hilfsmittel, wie etwa das Skizzenkonvolut zur Biografie, die von ihm versandten Fragebögen, die Notizhefte und Tagebücher. Durch den Direktvergleich der von Kalbeck benutzten Quellen mit dem ›Endprodukt‹ Biografie können Leerstellen, Abänderungen und der gezielte Einsatz von Narrativen untersucht und analysiert werden. Sie sind zugleich ein wichtiger Ausgangspunkt, um die einzelnen Rezeptionsstränge und Aspekte der Konstruktion des Brahms-Bildes in der Biografie zu verdeutlichen und zu zeigen, dass Biografien, auch die eines außergewöhnlichen Künstler, immer auch das Ergebnis zeit- und raumspezifischer Vorstellungen und Kontexte des historiografischen Subjektes selbst sind.
 

Teresa Cäcilia Ramming, M. A., hat an der Universität Zürich Musikwissenschaft, Deutsche Literaturwissenschaft und Allgemeine Vergleichende Literaturwissenschaft studiert (Abschluss Juni 2017). 2012–2017 war sie Semesterassistentin am Lehrstuhl von Prof. Dr. Laurenz Lütteken am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Zürich. Sie schrieb Konzertprogrammtexte für zahlreiche Kultureinrichtungen, so etwa für das Münchner Rundfunkorchester, das Tonhalle-Orchester Zürich, erstKlassik am Sarnersee oder das Musikkollegium Winterthur. Ihre interdisziplinäre Masterarbeit Die Musik in Simone de’ Prodenzanis »Il Saporetto« zur literarischen Darstellung von musikalischem Repertoire im Trecento wurde mit dem Semesterpreis der Universität Zürich ausgezeichnet. Seit Januar 2018 ist sie im Rahmen des »Lübecker Modells« Volontärin und Doktorandin am Brahms-Institut an der Musikhochschule Lübeck. Das Projekt wird von Prof. Dr. Wolfgang Sandberger betreut, der mit seiner Arbeit über Das Bach-Bild Philipp Spittas eine wichtige methodische Grundlage für ihre eigene Forschungsarbeit bietet. Das Brahms-Institut beherbergt neben zahlreichen von Kalbeck angefertigten Brahms-Briefabschriften auch das von Kalbeck erstellte Skizzen-Konvolut zur Monumentalbiografie Johannes Brahms, das eine wichtige Quelle für das Forschungsprojekt darstellt.