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Julia Willrodt

Zur Herstellung von Geschlecht im medizinischen Behandlungsgespräch. Visitengespräche zwischen Ärzt:innen und Patient:innen nach akutem Herzinfarkt

Der Herzinfarkt zählt zu den häufigsten Behandlungsanlässen im Krankenhaus und gilt als medizinischer Routinefall. Die ärztliche Behandlung umfasst neben der medizinischen Versorgung auch die Überleitung in rehabilitative Maßnahmen nach dem Krankenhausaufenthalt. Für die Patient:innen, die einen Herzinfarkt erleiden, stellt die Behandlung nicht nur eine medizinische, sondern auch eine körperliche, emotionale und soziale Extremsituation dar: Sie werden unvermittelt aus sozialen Lebensbezügen herausgerissen, intensiv-medizinisch behandelt und mit umfassenden Veränderungen in ihrer Lebensführung konfrontiert, um das Risiko eines weiteren Herzinfarkts zu reduzieren.

Das Forschungsprojekt untersucht die Herstellung von Geschlecht (gender) in der sozialen Interaktion zwischen Ärzt:innen und Patient:innen. Dies steht dem medizinischen und Alltagsverständnis von Geschlecht entgegen, laut dem „Geschlecht“ etwas „Natürliches“ ist, das bei der Geburt anhand von körperlichen und medizinischen Merkmalen bestimmt wird und ein Leben lang besteht. Gender-Ansätze verstehen „Geschlecht“ hingegen als eine soziale Kategorie, die das soziale Miteinander regelt und sozialen Wandlungsprozessen unterliegt. So galt der Herzinfarkt in der Gesellschaft und Medizin lange Zeit als eine „Männer- und Managerkrankheit“, was seit wenigen Jahrzehnten im Hinblick auf das vermehrte Nichterkennen von Herzinfarkten bei Frauen problematisiert wird. Zwar stellten die in den 1990er Jahren initiierten Studien zur Herzgesundheit von Frauen heraus, dass Frauen andere akute Beschwerden schilderten als Männer. Doch selbst in Simulationsstudien mit Schauspielpatient:innen zeichnen sich bei gleichen Beschwerdebildern weiterhin Differenzen in der ärztlichen Wahrnehmung und Deutung von Männern und Frauen ab. Diese weisen auf die Bedeutsamkeit sozialer Prozesse in der Herstellung von Geschlechterdifferenzen hin.

Angesichts dessen geht die Dissertation der Frage nach, wie die zweigeschlechtliche Ordnung in der Visiteninteraktion von Ärzt:innen und Patient:innen (re)produziert wird. Im Sinne von doing gender wird Geschlecht routinemäßig im alltäglichen Handeln hergestellt und ist in der Visiteninteraktion in die wechselseitigen Prozesse der Geschlechtszuweisung und -darstellung eingebunden. Ergänzend zu medizinsoziologischen Arbeiten, die ein starkes Wissen-Macht-Gefälle und einen restriktiven Umgang mit den Patient:innen in der Visite herausstellen, offenbaren geschlechterbezogene Analysen weitere Darstellungsmuster. Diese weisen auf eine stärkere Beteiligung der Patient:innen sowie eine größere Rolle psychosozialer Themen in Gesprächen mit einer Ärztin hin. Jedoch mangelt es an Studien, die sowohl die Darstellungsleistungen als auch die Wahrnehmungs- und Deutungsprozesse beider Seiten der Zweiergruppe (Dyade) im Gespräch erfassen, um so Wechselwirkungen zwischen Ärzt:innen und Patient:innen analysieren zu können.

Diesbezügliche Untersuchungen ambulanter Behandlungsgespräche offenbaren, dass z. B. die Themen, die in der Sprechstunde besprochen werden, je nach Geschlechterkonstellation divergieren. Demnach sprechen Männer in der Ärztin-Patient-Dyade häufiger emotionale Themen an als in der Arzt-Patient-Dyade, in der eher soziale Themen besprochen werden. In der Arzt-Patientin-Dyade dominieren vor allem biomedizinische Aspekte, während Hausärztinnen und Patientinnen entweder psychosoziale oder biomedizinische Aspekte besprechen. Offengeblieben ist bislang allerdings, wie diese Schwerpunktsetzungen wechselseitig von den Beteiligten hergestellt, wahrgenommen und bewertet werden. Dies stellt insbesondere für Behandlungsgespräche im Krankenhaus ein Forschungsdesiderat dar.

Ziel des Promotionsprojekts ist es, die in die Konstruktion von Geschlecht bei der Visiteninteraktion eingebundenen wechselseitigen Prozesse empirisch zu untersuchen. Dafür wurden 33 Visitengespräche sowie Interviews mit den beteiligten 10 Ärzt:innen und 11 Erstinfarktpatient:innen im Hinblick auf soziale Praktiken, ihre Implikationen und Handlungsbedeutungen qualitativ ausgewertet. Die Ergebnisse tragen zur Erweiterung bestehender theoretischer Konzepte in der Geschlechter- und Gesundheitsforschung sowie Medizinsoziologie bei und sind anwendungsbezogen für die ärztliche Aus- und Weiterbildung einsetzbar.

 

Julia Willrodt hat Sozialwesen an der Fachhochschule Kiel studiert. Nach einer beruflichen Tätigkeit in der Sozialen Arbeit im Gesundheitswesen absolvierte sie 2007 an der Universität Hamburg den Master Gender und Arbeit. Daneben war sie u. a. am Institut für Interdisziplinäre Genderforschung und Diversity wissenschaftlich tätig. Für ihre Promotion an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel erhielt sie 2011 ein Promotionsstipendium der Heinrich-Böll-Stiftung und wurde 2015 im Rahmen eines Abschlussstipendiums des ZKFL gefördert. Neben dem Abschluss der Dissertation ist sie derzeit im Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit an der FH Kiel in der Lehre tätig.