Skip to main content

David Keller

Person und Praxis: Eine Wissens- und Mediengeschichte der Persönlichkeitsdiagnostik

Das Nachdenken über das ›Wesen‹ des Menschen und seine charakteristischen Merkmale ist so alt wie die europäische Kulturgeschichte. Eine Auseinandersetzung mit den Attributen des menschlichen Charakters im Allgemeinen und ihrer vermeintlichen Ausprägung kann somit als konstante Reflexionsfigur innerhalb der Tradition des abendländischen Denkens in all seinen Epochen ausgemacht werden.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird jedoch eine zunehmende Systematisierung in der Auseinandersetzung mit den psychischen Eigenschaften des Menschen evident, auf deren Grundlage im Verlauf des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts eine wissenschaftliche, primär von der Disziplin der Psychologie getragene Persönlichkeitsforschung und Psychodiagnostik entsteht. An den Übergangsbereichen zwischen Natur- und Geisteswissenschaften situiert und in ihrer konkreten Ausrichtung insbesondere von sozial-kulturellen Faktoren beeinflusst, entwickelt die Persönlichkeitsforschung dabei – synchron wie diachron – völlig konträre Modelle über die Struktur und Beschaffenheit des eigenen Gegenstandes. Eng gekoppelt sind diese Modellvorstellungen an die konkrete Forschungspraxis, die beispielsweise in psychologischen Laboratorien oder klinisch ausgerichteten Institutionen Einzug hält. Ihre Aufgabe ist es, die Persönlichkeit des Menschen zunächst auf deskriptiver Ebene einzuholen, darüber hinaus aber auch erklären und – in einem finalen Schritt – sogar vorhersagen zu können.

Im Kontext dieser Praxis nehmen Ensembles aus verschiedenen Medien, Materialien und Apparaturen eine zentrale Rolle ein: Eigens von Psychiatern oder Psychologen entwickelt, stellenweise auch aus anderen humanwissenschaftlichen Forschungszusammenhängen übernommen und für die eigene Fragestellung modifiziert, sollen diese Instrumente Indikatoren der Persönlichkeit aufzeichnen, individuelle Ausprägungen von Persönlichkeitsfaktoren quantitativ erfassen oder Unterschiede zwischen verschiedenen Menschen hinsichtlich einzelner Charakterfacetten zu erkennen geben.

Das Projekt untersucht die Interdependenz zwischen der Reflexion über das Konstrukt ›Persönlichkeit‹ und seiner empirisch-instrumentellen Fixierung für den Zeitraum vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – der Zeit, in der die Persönlichkeit als epistemisches Objekt in die Humanwissenschaften Einzug hält und als Forschungsdesiderat erkannt wird. In dieser Form gedacht, lässt sich die Geschichte der Persönlichkeitsdiagnostik als ›Spurensuche‹ rekonstruieren, bei der – stimuliert durch den allgemeinen kulturellen Kontext, aber auch technische oder wissenschaftliche Neuerungen – verschiedene Zeichensysteme hinsichtlich ihrer diagnostischen Aussagekraft über das verborgene Innere erprobt, akzeptiert oder auch abgelehnt werden.

Im Zentrum der historischen Analyse steht der Übergang von einer zunächst primär auf den Körper als Ausdrucksmedium abzielenden, charakterologischen Form der Persönlichkeitsbeurteilung hin zu einer auf diversen Medien, Materialien und Apparaturen basierenden Psychodiagnostik. Diese dominiert ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts den wissenschaftlichen Zugriff auf Persönlichkeit und soll dem Ideal einer objektiven, mathematisch begründeten Entschlüsselung psychischer Eigenschaften und Prozesse Rechnung tragen. Gemäß ihrer Kardinalfunktion für die Entwicklung der Persönlichkeitsforschung in der westlich industrialisierten Welt konzentriert sich das Projekt auf die Forschungslinien in Deutschland, Großbritannien und den Vereinigten Staaten. Nehmen diese in der Zeit vor der Jahrhundertwende noch unterschiedliche Richtungen ein, die auch in verschiedenen Schwerpunktsetzungen manifest werden, zeichnet sich im Verlauf der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine zunehmende Konvergenz ab: Die abstrakte, psychometrisch begründete Konzeption von Persönlichkeit wird zum Leitparadigma.

Im Sinne einer materialorientierten historischen Epistemologie konzentriert sich das Forschungsprojekt auf die Praktiken, Testverfahren und Aufzeichnungssysteme, die für die Untersuchung des Gegenstandes entwickelt oder aus anderen Wissenszusammenhängen entnommen wurden. Sie werden dahingehend analysiert, auf welche spezifische Weise sie eine Fixierung, Materialisierung und Visualisierung abstrakter psychischer Eigenschaften leisten. Zugleich untersucht das Projekt die bei der Formierung des epistemischen Objekts entwickelten impliziten und expliziten Normalitätskonzepte sowie die Normalisierungseffekte, die aus der Eigenlogik des eingesetzten Mediums resultieren. Auch wird der Frage nachgegangen, wie die in einer Gesellschaft verbreiteten Konzepte von Subjektivität, Person und Individualität in den Testverfahren wirkmächtig werden und historischen Veränderungen unterliegen.

Das Forschungsprojekt stützt sich auf Archivbestände in Deutschland, Großbritannien und den Vereinigten Staaten. Mit Blick auf seinen länderübergreifenden Ansatz leistet es zudem einen Beitrag zu der Geschichte der transnationalen Austauschbeziehungen innerhalb der Humanwissenschaften vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

 

David Keller studierte Psychologie an der Universität Potsdam (Diplom 2009) sowie Kulturwissenschaft und Kunstgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin und der University of British Columbia, Vancouver (Magister Artium 2011). Ab 2012 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung der Universität zu Lübeck und Doktorand an der Humboldt-Universität zu Berlin.

2019 promovierte er an der Humboldt-Universität zu Berlin, mit dem Titel "Person und Form : eine Medien- und Wissensgeschichte der Persönlichkeitsdiagnostik".

 


Seine Dissertation ist 2021 bei Mohr Siebeck in der Reihe „Historische Wissensforschung“ erschienen: Keller, D. (2021). Person und Form: Eine Medien- und Wissensgeschichte der Persönlichkeitsdiagnostik. Tübingen: Mohr Siebeck. ISBN 978-3-16-161063-9