Erzählen im Brief
Workshop mit Prof. Dr. Jochen Strobel, Philipps-Universität Marburg
Am vierten und letzten Tag der Summerschool diskutierten wir mit Prof. Jochen Strobel von der Universität Marburg über Narrativität im Brief. Erzählen als anthopologische Universalie findet auch im Brief statt, so Strobel. Der Nutzen einer Analyse von Erzählstrukturen im Text liegt darin, sich bewusst zu machen, warum ein Brief von einem Lesenden auf eine bestimmte Art und Weise gelesen und wahrgenommen wird und nicht anders. Dabei können eine Vielzahl der Analysekriterien der Erzähltheorie auch im Brief Anwendung finden. Auf besonderes Interesse stieß dabei die Erkenntnis, dass jeder Herausgeber einer Briefausgabe eine Vermittlungsinstanz ist und als solche an der Narration mitschreibt.
Anhand von Beispieltexten aus einem Emailroman (Daniel Glattauer: „Gut gegen Nordwind“, 2006) untersuchten wir Unterschiede zwischen authentischer und nachempfundener Briefkommunikation und diskutierten ferner inwiefern von narrativen Strukturen bei WhatsApp-Chatverläufen gesprochen werden kann.
In einem zweiten Teil des Workshops lag der Fokus auf Familienkorrespondenzen. Eingangs stellte Prof. Strobel die von ihm betreute digitale Edition der Korrespondenz August Wilhelm Schlegels vor, die auch bisher wenig beachtete Familienkorrespondenzen umfasst. Ausgehend vom Buchcover der Edition „Die Briefe der Manns. Ein Familienportrait“ (Lahme/Pils/Klein, 2016), das die Familie Mann nahezu vollständig in geselliger Runde beisammen sitzend zeigt - und damit also nicht in einer Trennungssituation die der Distanzkommunikation bedarf -, sprachen wir über den „Portraitbegriff“ bzw. den im 19. Jh gängigen Buchtypus des „Lebens in Briefen“ und über Kriterien der Briefauswahl.
Sprachlicher Inhalt und Materialität, Überlieferung und Zirkulation, Netzwerk und Narration, Digitalisierung – alle Themen der vorhergehenden Tage kamen dabei zu Sprache, sodass der Workshop einen passenden Schlusspunkt für eine Woche mit „massenhaft Briefen“ bildete.
Kerstin Klein
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